Solche Leute haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!
Sie sitzt da und zittert, hat das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Da! Genau das ist es: Niemand merkt etwas davon. Also sitzt sie weiter da, zitternd. Aber eigentlich soll das auch unbemerkt bleiben, sie will ja niemandem irgendwelche Umstände machen. Das will sie nie. Sie hört sich die Probleme und Sorgen der anderen an, aber mit ihren Problemen ist sie allein. Die anderen haben doch schon mehr als genug, stimmt's? Sie schweigt. Und schweigt und schweigt und schweigt...
"Weißt du, das geht mir mächtig auf die Nerven: Nie sagst du etwas, wenn irgendwas nicht stimmt!"
- "Aber... Ich..."
"Sag doch was!"
- "Was denn?!"
STILLE.
Sie würde ja. Sie würde ja etwas sagen. Aber sie will doch keinem lästig werden dadurch! Also schweigt sie wieder. Und ihr Freund ist deswegen wütend auf sie, auch wenn er es nicht direkt zugibt. Aber das merkt sie. So wie sie es merkt, wenn irgend jemand wütend ist, oder wenn es irgend jemandem schlecht geht. Darin hat sie schließlich schon genug Erfahrung.
Bei ihr merkt das niemand. Keiner, der ihr hilft; keiner, der sie auch nur tröstet. Sie baut eine Mauer um sich herum, eine dicke Mauer. Damit das ja niemand merkt, damit bloß keiner an sie rankommt. Und damit sie selbst auch nicht mehr an sich rankommt. Selbstschutz heißt das Zauberwort! Dann tut es nicht so weh.
Mit jedem neuen Problem wächst die Mauer und immer, wenn sie wütend ist. Alles scheint an ihr abzuprallen, nie sieht jemand sie weinen. Sie ist kalt, eiskalt. Nur manchmal, wenn sie nachdenkt über sich - wenn sie sich das traut - dann kommt sie sich selbst auch kalt vor. Dann erinnert sie sich an die Maske, die sie trägt. Sie hat sie schon fast vergessen, weil sie sie immerzu aufhat. Wenn es dann aber doch einmal jemand geschafft hat, sie zum Reden zu bringen, fühlt sie, wie ihre Mauer brüchig wird und Risse bekommt. Manchmal wünscht sie sich genau das. Aber sobald sie merkt, was dahinter auf sie wartet, wird die Mauer ganz schnell wieder gekittet.
Schreie! Sie brüllt und flucht! Ihr ganzer Körper bebt. Dann verebbt der Krach, ungehört.
Langsam wird sie wieder ruhig. Sie ist still. War still und wird es bleiben. Das alles hat sich nur in ihrem Kopf abgespielt, nichts davon ist Wirklichkeit. Höchstens Wunsch.
Manchmal, wenn sie glaubt, es nicht mehr länger ertragen zu können, dann will sie ihm alles sagen, was sie bedrückt. Dann wäre er doch endlich zufrieden. Sie will. Aber da steigt Angst in ihr auf. Diese erbärmliche, schier erdrückende Angst. Angst davor, den anderen mit ihren Problemen zu belasten und Angst davor, dass sie ihren Problemen dann nicht länger aus dem Weg gehen kann und sich ihnen stellen muss. Sie kämpft. Doch die Angst überwiegt, begräbt den Druck, die Probleme unter sich.
Irgendwann folgen Wut und Trauer darüber, dass sie nicht gegen die Angst ankommt. Und so sitzt sie dann da und weint. Aber nur, wenn sie sich sicher ist, dass das niemand bemerkt.
Ein Gedicht.
"Ich möcht' am liebsten sterben,
Da wär's auf einmal still!"
Sie zittert.
Stille: Wie schön wäre das! Wenn es nichts mehr gäbe, dass laut ist; wenn es niemanden mehr gäbe, der mit ihr schimpft und niemanden, der seine Sorgen auf sie lädt. Wenn Stille in ihrem Kopf wäre.
Tod bedeutet Stille, und nie mehr Krach oder Unruhe. Sie möchte Stille. Denn irgendwann kann sie nicht mehr. Sie will nicht mehr der Seelentröster sein in ihrer Familie oder bei sonstwem. Nicht, wenn keiner dabei an sie denkt und sie fragt, wie ihr es geht - einfach nur mal das fragt! Mehr verlangt sie doch gar nicht. Aber nichts geschieht. Sie will Stille, und sie will den ganzen Druck loswerden. Manchmal will sie sterben.
"Noch mehr Probleme kann ich wirklich nicht gebrauchen!"
"Große Mädchen weinen doch nicht!"
"Ich hab' jetzt wirklich keine Zeit!"
"Ach komm, das ist doch nicht so schlimm! Anderen geht es viel schlechter als dir - hast du darüber schon mal nachgedacht?!"
"Ich hab' dich noch nie weinen sehen."
Das hat noch niemand, wenn man mal von Bienenstichen, Beulen oder aufgeschürften Knien aus der Kinderzeit absieht. Ernsthaft weinen hat man sie noch kein einziges Mal gesehen. Aber das heißt nicht, dass sie stark ist.
© Sandy
sandy