DER TAG DER UMKEHR

Es war ein gewöhnlicher Morgen. Sie hatte wie immer nicht ausgeschlafen und fand, dass die Nacht viel zu kurz gewesen war. Sie ging ins Badezimmer und auf dem Weg unter die Dusche warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel.
Irritiert hielt sie vor der Dusche inne und ging langsam wieder einen Schritt zurück. Ungläubig starrte sie sich im Spiegel an. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Es war schon irgendwie ihr Gesicht aber irgendwie auch nicht. Es war schwer zu beschreiben. Sie sah gut aus. Sie war normalerweise auch nicht hässlich, aber normal eben.
Aber heute Morgen sah sie total verändert aus. Ihr dunkelblondes Haar, dass sie gerne als straßenköterblond bezeichnete, hatte einen glänzenden sanften Ton angenommen und es hatte nie so gesund und gut ausgesehen.
Ihre Haut war klar, rein und rosig. Von den Augenrändern, die sonst immer sofort ins Auge stachen, war keine Spur zu sehen.
Ihr Gesicht kam ihr auch schmaler vor und von dem Ansatz eines Doppelkinns, dass sie sich sonst immer einredete, war auch nichts zu sehen. Auch sonst schien sie irgendwie abgenommen zu haben und ihre Augen schienen an diesem Morgen in einem besonders intensiven klaren Blau zu strahlen. Ja, das war der Ausdruck - sie strahlte irgendwie. Wie oft hatte sie sich gewünscht so auszusehen und nun war es einfach da. Wahrscheinlich hatte sie einen besonders intensiven Traum oder ein Hirngespinst. Sie ging unter die Dusche. Nach einer ausgiebigen Dusche trat sie wieder vor den Spiegel.
Die Veränderung war immer noch da. Sie war fassungslos aber sie hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen. Sie machte sich fertig für die Arbeit. Als sie aus der Wohnungstür trat, erstarrte sie. Es war nicht richtig hell, der Himmel leuchtete blutrot. Sie ging raus und als sie ihre Nachbarin sah, erschrak sie. War das überhaupt ihre Nachbarin ?
Ihr Gesicht war so schrecklich verzerrt, dass es fast wie eine Fratze wirkte. Ihr Haar war stumpf und brüchig und vom Weinen war ihre Schminke ganz verschmiert. Sie starrten sich einen Augenblick an. Sie fragte: "Was geschieht hier ?"
Ihre Nachbarin heulte: "Ich weiß es nicht. Ist es nicht schrecklich ? Du siehst gut aus, wieso bist du nicht entstellt ?"
Auf einmal kam ihr etwas in den Sinn, dass sie fast vergessen hatte. Sie hatte vor einigen Wochen im Park gesessen und da war dieses Mütterchen gewesen, dass von einigen Jugendliche schlecht behandelt wurde. Und sie hatte gesagt: "Der Tag der Umkehr ist nah. Was innen ist, wird sich nach außen kehren und ein rotes Feuer wird die Lüge in Wahrheit verwandeln" oder so etwas ähnliches. Sie hatte das für Gerede gehalten - das wirre Gerede einer alten Frau.
Konnte das sein ? Hatte die Alte recht gehabt. War das der Tag der Umkehr ?
Das war doch verrückt - Tag der Umkehr - was sollte das überhaupt bedeuten ?
Sie ging zu Fuß zur Arbeit. Alles war in ein rötliches Licht getaucht. Die Bäume schienen grüner als gewöhnlich, die Vogel sangen schöner und lauter. Oder kam es ihr nur so vor ?
Die Straße war leergefegt. Es war nicht ein Auto zu sehen. Viele Menschen standen in ihren Vorgärten und starrten in den Himmel, in ihren Gesichtern nichts als Fassungslosigkeit und endloses Erstaunen. Die Gesichter waren das Auffälligste.
Einige waren besonders strahlend an diesem Morgen, schön und anziehend - so wie ihres.
Aber da waren andere - schlimme Fratzen, entstellt durch Schatten, Narben und verzerrt. Sie sahen schlimm aus, mitleiderregend und furchteinflößend. Als sie bei der Arbeit ankam, waren nur wenige im Dienst. Ihr Kollege sah sie an: "Dir geht es also gut." Sie: "Ja, mir geht es sehr gut. Ist der Chef da ?" Er: "Ja, er ist auch da. Stell dir vor. Unsere Lieblingskollegin ist vorhin gekommen und sie sah wirklich ekelhaft aus, passend zu ihrem Charakter."
- Was innen ist, wird sich nach außen kehren - diese Worte hallten in ihrem Kopf wieder. "Und der Chef sah sie an und sagte: "Also, dass sie sich so auf die Straße trauen, finde ich ganz schön mutig."
Sie: "Das hat er wirklich gesagt ?" Er lachte: "Ja, aber der Hammer war ihre Antwort: Wissen sie was ? Sie sind ein Widerling. Ich habe sowieso keine Lust zu arbeiten. Machen sie ihren Mist doch alleine."
Sie sah ihn an. Und wieder kamen ihr die Worte der Alten in den Sinn: - ein rotes Feuer wird Lüge in Wahrheit verwandeln - Lüge in Wahrheit Sie ging an ihren Arbeitsplatz aber es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf - Was innen ist, wird sich nach außen kehren - ein rotes Feuer wird Lüge in Wahrheit verwandeln - Sie sah aus dem Fenster. Der Himmel war immer noch blutrot und tauchte alles in ein besonderes Licht. Es wirkte warm aber es hatte auch etwas Bedrohliches.
Die Pflanze auf ihrem Fensterbrett hatte angefangen zu blühen, obwohl sie fast verdorrt gewesen war. Sie trug eine wunderschöne rote Blüte. Sie wollte ihren Computer anschalten aber es tat sich nichts. Kein Computer im Büro funktionierte aber ihr Chef nahm das entspannt hin. Er sah überhaupt entspannt aus heute und gut.
Sie lächelte und kochte einen Kaffee.
Der Tag der Umkehr - war das der Anfang vom Ende ? Oder war es der Anfang von etwas Neuem ?
Der Tag der Umkehr...

Tami